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Stefan Cordes: Billie (C. Bertelsmann, 2024)

Worum geht’s?

Billie, jüngste Tochter des Bürgermeisters Schwarz, wächst mit fünf Geschwistern behütet im Elternhaus auf. Sie stört sich früh an der unterschiedlichen Bildung, die ihren Brüdern zuteil wird und ihr nicht. Oft schleicht sie sich in die väterliche Bibliothek, sie bringt sich selbständig Lesen und Schreiben bei und liest sich durch die Weltliteratur. Heimlich zieht sie auch mal Hosen an und zieht als Junge durch die Strassen.

 

Dann wird der Vater in den Krieg eingezogen, die Töchter bleiben unter dem Schutz ihres Onkels zurück. Billie begehrt auf. Sie will sich nicht in die Frauenrolle fügen, sich nicht verheiraten lassen, sondern sie will ein eigenständiges Leben führen wie ihre älteren Brüder. Ein Hauslehrer erkennt ihr Potential und schenkt ihr Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey. Von da an ist Bilies Sprache ihre Waffe, sie dichtet gegen alle Widerstände an, schreibt über die Unterdrückung, die ihr als Frau widerfährt und dichtet Sonette für eine Freundin – oder Geliebte?

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Die Barokdichterin Sybilla Schwarz hat es tatsächlich gegeben, sie lebte von 1621 bis 1638 und starb mit 17 Jahren an der Ruhr. 1634 trug sie bei den offiziellen Feierlichkeiten anlässlich des Empfangs von Ernst Bogislaw von Croÿ an der Universität Greifswald eines ihrer Gedichte vor, eine Anekdote, die im Buch ausführlich beschrieben wird. Auch ihr Hauslehrer Samuel Gerlach ist historisch verbürgt. 1650, zwölf Jahre nach Sibyllas Tod, veröffentlichte er ihre Gedichte unter dem Titel Deutsche Poëtische Gedichte in zwei je über 100 Gedichte umfassenden Teilen. Einige ihrer Lieder wurden in Gesangsbücher aufgenommen. Ihr Langgedicht Ein Gesang wider den Neid, das am Ende des Buches in einer von Stefan Cordes bearbeiteten Fassung abgedruckt ist, gilt als das erste kompromisslos feministische Gedicht der Weltliteratur.

 

In den 1630er Jahren tobt in Pommern nicht nur der 30-jährige Krieg, sondern auch die Pest bedroht die Bevölkerung. Anschaulich wird das Leben in einem bürgerlichen Haushalt von damals geschildert, mit Mägden, Köchinnen, Hauslehrern. Der 30-jährige Krieg, der sonst mit Heldentaten aus Männerperspektive geschildert wird, sieht aus Frauenperspektive anders aus.

 

Mich fasziniert, wie diese junge Dichterin für künstlerische Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben kämpft. Historische Romane sind ein Genre, das mich eigentlich nicht so interessiert, aber in diesem Fall freue ich mich, dass der Autor unsere Aufmerksamkeit auf eine fast vergessene Dichterin lenkt und ihr mit Leichtigkeit und Humor ein Leben andichtet und Leerstellen füllt, dass man das Buch mit seinen kurzen Kapiteln nur so wegliest. Ob dabei die Leerstellen historisch korrekt gefüllt wurden oder ob vielleicht nicht doch etwas zu viel Dichtung, Übertreibung und modernes Denken ins Werk hineinfloss, bleibe dahingestellt. Der Hexenprozess zum Beispiel wäre meiner Meinung nach nicht auch noch nötig gewesen.

 

Doch alles in allem: Eine tolle Hommage an eine aussergewöhnliche Frau!

 

Originalton aus dem Buch

Ich lernte, Latein zu lesen, mein Bruder Christian riet mir dazu, half mir, so entdeckte ich die Heldenepen Homers, die Oden Horaz’, den klugen Vergil und natürlich Ovid, immer wieder Ovids Bücher der Verwandlungen. Sehnsüchtig wartete ich darauf, mich selbst zu verwandeln, ohne sagen zu können, in was. So gerne hätte ich geschrieben wie Ovid, doch was ich wusste, wusste ich aus Büchern, was ich erlebte, waren keine Heldentaten, keine Abenteuer, ein Gott liess sich in unserer Küche nicht blicken, nicht mal ein Halbgott. Ich schnippelte Bohnen, verdrückte mich in die Bibliothek, wenn niemand nach mir schaute. Die Stunden zogen vorbei wie Wolken, Tage zogen vorbei wie Schiffe am Horizont. Ein Fohlen wurde geboren, Gänse wurden geschlachtet, Rüben gab es im Überfluss, Rüben wurden knapp, Möhren waren nicht zu bekommen, ein Pferd lahmte, eine Nachbarin starb. Regina würde eines Tages heiraten, Emerentia eines Tages nach ihr, zuletzt ich, eines Tages würde auch ich heiraten, erst dann, behauptete Emerentia, werde sich unser Leben ändern, weil wir in ein anderes Haus zögen, die Frau eines Mannes würden, Kinder bekämen, alles so unvorstellbar, wie dass mir ein Bart wachsen mochte.

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