Worum geht’s?
Juno Isabella Flock ist Mitte fünfzig, freiberufliche Performancekünstlerin und lebt mit ihrem Partner Jupiter in einer Leipziger Altbauwohnung. Jupiter ist Schriftsteller, er gewinnt ab und zu einen Literaturpreis und hat Multiple Sklerose, die ihn Jahr für Jahr mehr einschränkt. Junos Alltag ist anstrengend, zur Pflege und Betreuung ihres Mannes kommen finanzielle Sorgen.
Doch all dies erfährt man eher nebenbei. Der grösste Teil des Buches spielt in den Nächten, in denen Juno nicht schlafen kann und deshalb auf Social Media mit fremden Männern chattet. Sie weiss genau, dass es sich um Love-Scammer handelt, junge Männer in Internetcafés weit weg, die sich als ältere, weisse, wohlhabende Männer ausgeben, um Frauen abzuzocken. Sie «benutzt» die Männer ihrerseits als Gesprächspartner und macht sich einen Spass daraus, für sich andere Biografien zu erfinden und auszutesten, was für unglaubliche Dinge sie erzählen kann, bis die Betrüger ihr nicht mehr schreiben. So gewinnt Juno Abstand zu ihrem Alltag.
Dann trifft sie auf Benu, einen jungen Nigerianer, den sie schon im ersten Gespräch als Scammer entlarvt und trotzdem weiter chattet. Es entsteht eine Nähe, die Juno so nicht hatte kommen sehen. Die Leserin verfolgt das wachsende Interesse der Protagonistin am Scammer und fragt sich bange, wann der Moment kommt, in dem Benu Juno um Geld bittet. Aber vielleicht muss er das ja gar nicht. Juno lernt Benus Alltag kennen, er erzählt ihr von seiner Familie und nimmt Anteil an ihrem Alltag. Juno fühlt sich gesehen und verstanden und fragt sich irgendwann, ob sie ihn vielleicht doch finanziell unterstützen sollte. Wer nutzt hier wen aus? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten.
Was mir am Buch besonders gefällt
Der Roman ist autofiktional und könnte deshalb leicht in die Falle der Larmoyanz tappen. Doch der Autorin gelingt eine Fiktionalisierung – nicht zuletzt durch die mythologische Namenswahl –, die einen nicht mitleiden, sondern nachdenken und schmunzeln lässt.
Junos Alltag ist hart, zur Pflege und Betreuung ihres Mannes kommen existentielle Sorgen. Die Überprüfung des Gesundheitssystems, wie stark Jupiter denn wirklich pflegebedürftig ist, ist gnadenlos. Da erstaunt es auch nicht, dass sich Juno im Supermarkt auf den Boden setzt und weint, weil ihr einfach alles zu viel wird. Doch der Roman liest sich locker, der Stil ist unterhaltsam und flüssig, aufgelockert durch Ausschnitte aus den Chats. Und die Spannung, wie die Online-Beziehung endet, hält einen bei der Stange.
Fazit: Ein unterhaltsamer, gesellschaftskritischer Roman, der sich mit Themen wie Einsamkeit, Sehnsüchten, existentiellen Sorgen, dem deutschen Gesundheitssystem und Überlebenswillen generell beschäftigt.
Originalton aus dem Buch
Gleich am ersten Abend wieder eine Anfrage auf Instagram. Sie kam von Owen_Wilson223.
Juno überlegt kurz, das Profil gleich zu blockieren, sie wollte doch schlafen. Oder ein bisschen aus dem Fenster schauen. […] Andererseits sass irgendwo da draussen ein Love-Scammer, Fake Owen Wilson, unter demselben nächtlichen Himmel, der hier über den Bergzacken lag, und wartete auf ihre Antwort. Es war zu verlockend. Juno öffnete das Profil. Wie üblich gab’s nur wenige Fotos, ein paar Tage zuvor gepostet.
Ein Mann mit Dreitagebart, um die fünfzig, weiss, das erste Foto zeigte ihn im Smoking bei einem Stehempfang, auf der Wand hinter ihm sah man das Logo einer Firma. Owen-Wilson223 hielt ein Lachsbrötchen in der Hand, lächelte in die Kamera.
Im Chatfenster stand
Hi.
Smiley
Juno klickte auf Anfrage annehmen.
Hi!
Smiley
Keine zwei Minuten später war Owen Wilson online.
Wie geht’s?
Mir geht’s gut, und dir?
Mir geht es grossartig!
Smiley mit den Herzaugen
Wo lebst du?
Ich lebe in Rumänien, dem Land von Dracula.
Kennst du es? Und du?
Mein Name ist Owen aus der Ukraine, aber ich lebe in Texas!
Wow, toll!
Bist du jetzt ein Cowboy?
Musstest du vor dem Krieg fliehen?
[…]
Und überhaupt, du bist gar nicht Owen Wilson aus Texas. Du bist ein Love-Scammer in einem Internetcafé.
Und ich bin nicht aus Rumänien. Wie’s mir geht? Wenn du’s wissen willst:
Lausig geht’s mir. Ich kann nämlich nicht einschlafen.