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Caroline Wahl: Windstärke 17 (DuMont, 2024)

Worum geht’s?

Caroline Wahls Debüt 22 Bahnen eroberte letztes Jahr die Bestsellerlisten im Sturm und wurde unter anderem zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023 gewählt. Mich hatte die Geschichte von Tilda und Ida, die bei ihrer alkoholabhängigen, unzuverlässigen Mutter wohnen und versuchen, ihren Alltag auf die Reihe zu bekommen, stark beeindruckt. In 22 Bahnen ging es vor allem um Tilda, die ihr Studium, den Job an der Supermarktkasse und die Sorgen um ihre kleine Schwester und ihre alkoholabhängige Mutter unter einen Hut bringen musste. Die grosse Verantwortung und die Sehnsucht nach einem freien eigenen Leben zerriss sie fast. In Windstärke 17 erfahren wir nun, wie es ihrer kleinen Schwester Ida Jahren später geht.

 

Tildas und Idas alkoholkranke Mutter hat sich schliesslich durch eine Überdosis umgebracht. Das kam zwar nicht überraschend, trotzdem reisst es Ida den Boden unter den Füssen weg. Tilda schickt ihr ein Zugsticket und sagt, sie soll zu ihr und ihrer Familie nach Hamburg kommen. Doch Ida bleibt im Zug einfach sitzen, bis sie auf Rügen strandet. Dort beginnt sie, in einer Bar zu jobben und findet bei deren Besitzer und seiner Frau eine Art Ersatzfamilie. Doch sie fühlt sich schuldig am Tod der Mutter und träumt jede Nacht davon, wie sie sie tot im Schlafzimmer auffindet.

 

Während viele Junge Rügen verlassen und in die Städte ziehen, ist Leif nach Rügen zurückgekehrt, um sich um seinen dementen Grossvater zu kümmern. Dass er ein bekannter DJ ist und unvermittelt seine Europatournee abgesagt hat, erfährt Ida übers Internet. Hat er das wirklich wegen seinem Grossvater getan, oder gibt es da noch einen anderen Grund?

 

Ida und Leif sind täglich am und im Meer, Ida schwimmend, Leif joggend und surfend. Sie testen Grenzen aus und riskieren in der stürmischen Ostsee ihr Leben. Absichtlich oder aus Versehen? Bald erkennen sie im andern eine verwandte, verletzte Seele.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Wie schon in 22 Bahnen haben wir auch hier eine mutige und tapfere junge Frau und einen geheimnisvollen und traurigen jungen Mann. Obwohl beide eine schwere Kindheit hatten, wobei wir bei Leif leider nicht viel über seine Vergangenheit erfahren, sind sie einander eine Stütze und helfen sich gegenseitig zurück ins Leben.

 

Aus dem doch sehr tristen Grundsetting schafft es Caroline Wahl, eine berührende Coming-of-Age-Geschichte zu schreiben. Der Stil ist eigenständig, knapp, präzise und unpathetisch, aber trotzdem warmherzig und voller trockenem Humor, der die Tragik der Schicksale etwas leichter scheinen lässt.

 

Fazit: spannend und berührend

 

Originalton aus dem Buch

«Weinst du immer noch wegen dem Xylophon?»

Ich reisse meine Augen auf. Leif hockt neben mir mit einem triumphalen Lächeln im Gesicht wie ein Junge, der gerade die Beine von seiner Mama in einen Sandberg eingebuddelt hat.

Ich: Stalkst du mich?

Er legt sich neben mich auf den Rücken und schaut auch in den grauen Himmel.

Nach einer Weile sagt er: «Ich laufe jeden Morgen, auch schon vor deinen suizidalen Schwimmmanövern.»

Ich zucke mit den Schultern und denke an das Wort «suizidal», das ich hasse.

Ich: Du bist DJ?

Leif: Du hast mich gegoogelt?

Ich: Du hast mich doch auch gegoogelt.

Ich schaue auf die immer noch regungslose Ostsee, auf der immer noch kein entflammtes Schiff treibt.

Als sich irgendwann zwischen dem Grau ein kleines hellblau leuchtendes Fenster öffnet, liegen wir immer noch schweigend nebeneinander auf dem Rücken im nassen Sand. So lange liegen eigentlich nur Freunde nebeneinander im Sand, denke ich. Überhaupt liegen nur Freunde nebeneinander im Sand, oder?

Ich: Und sind wir jetzt Freunde, oder was?

Ich drehe meinen Kopf zu Leif, aber der schaut weiterhin in das Grau oder in das kleine leuchtende blaue Fenster und sagt: «Okay.»

Ich schaue auch wieder in das Grau oder in das kleine leuchtende blaue Fenster und lausche der Stille.

Leif: Ich bin aber nicht so ein guter Freund.

Ich nicke und denke an Samara, die eine gute Freundin ist.

Ich: Das ist okay. Ich bin, glaube ich, auch nicht so eine gute Freundin.

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