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Percival Everett: James (Hanser, 2024)

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

 

Worum geht’s?

Everetts Geschichte ist ein Gegenentwurf zu Mark Twains Klassiker Huckleberry Finn. Hier heisst Jim nicht Jim, sondern James, und auch sonst ist einiges anders. Einige Erzählstränge behält Everett bei. Auch hier flüchten James und Huckleberry gemeinsam über den Mississippi. James, weil er verkauft werden soll, und Huck, weil er seinem trinkenden, gewalttätigen Vater entfliehen will. Everett ändert aber die Perspektive. Die Geschichte ist aus der Sicht von James erzählt. Und als sich die beiden zwischenzeitlich trennen, folgen wir den Erlebnissen von James.

 

Der grösste Unterschied zu Twains Buch besteht in der Person von James. Bei Twain ist er der unbeholfene Begleiter Hucks, der sich in einem seltsam kindlichen Slang ausdrückt. Bei Everett ist es umgekehrt, Huck begleitet James, und die Sprache der Sklaven ist nur Tarnung für die Weissen. Die Weissen erwarten, dass sich Sklaven schlecht ausdrücken, also tun sie es, um ihre Bildung zu verstecken. Als müsste man mit den Weissen in einer Kindersprache reden, damit sie sich in ihrer erhabenen Rolle nicht bedroht fühlen. Wenn die Sklaven aber unter sich sind, unterhalten sie sich in Standardsprache. James diskutiert in seinen Tagträumen mit Voltaire und John Locke. Woher die Sklaven ihre Bildung haben, wird nicht näher erklärt und ist vielleicht einer der Schwachpunkte des Buches. Doch sprachlich überzeugt es auf ganzer Linie. Auch die Übersetzung ist sehr gelungen. Stingl versucht nicht, einen Dialekt nachzubilden, sondern schafft eine neue Sprache, die sich vor allem durch Verschleifungen und falsche Grammatik auszeichnet. Das Ganze ist amüsant, humorvoll, witzig und subversiv.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Auf der Flucht spielt James Hucks Sklave, um nicht aufzufallen. Huck will das eigentlich nicht, er findet nicht gerecht, wie die Weissen mit Sklaven umgehen. Ein Schwarzer, der Sklave spielt und ein Weisser, der seine Macht nur spielt – eine weiter Volte in Everetts Geschichte.

 

Everetts Idee, dass die Sklaven einen speziellen Dialekt benutzen, wenn Weisse zuhören, und sonst in wohlgeformter Sprache über Philosophie diskutieren, finde ich witzig. Ist das eine Form von Kritik an Mark Twains Darstellung der Sklaven? Auf jeden Fall öffnet es den Weg zu einer interessanten neuen Perspektive. Auch James’ wenige sprachliche Ausrutscher sind humorvoll erzählt. Als dann Huck endlich von diesem «Sklavenfilter» weiss, sagt James zu ihm: «Du bist dann frei, wenn du denkst, dass du frei bist.»

 

Everett benutzt das N-Wort, das heute nicht mehr politisch korrekt ist. In einem Interview darauf angesprochen, meint er, er tue das, weil er die Wahrheit erzähle. Ein anderes Wort wäre nicht weniger verletzend, er kümmere sich nicht um das Wort, sondern um die Haltung dahinter. Er lasse sich nicht beeindrucken von Versuchen, sprachlich etwas zu vertuschen.

 

Ich finde es unterhaltsam, wie Everett Rassismus ad absurdum führt: James wird auf der Flucht von einem weissen Gospelchor angeheuert. Diese sogenannten Minstrels schminken sich das Gesicht schwarz (das sogenannte Blackfacing) und singen die Songs der Schwarzen für ein weisses Publikum, um sich so über sie lustig zu machen. Jetzt muss James sich auch das Gesicht schwarz schminken, um als Weisser durchzugehen, der sich schwarz schminkt. Ein Mitglied dieser Minstrel-Gruppe ist ein Schwarzer, der so hellhäutig ist, dass er als Weisser durchgeht. So wird eine weiter Dimension von Identität und Rassismus aufgemacht. Was bedeutet Hautfarbe? Was Rasse?

 

Originalton aus dem Buch:

«Wir ham überlegt, ob das stimmt», sagte Luke.

«Ob was stimmt?», fragte der Mann.

«Wir ham überlegt, ob die Strassen in N’Orlins wirklich aus Gold sin, wie’s immer heisst», sagte Luke und sah mich an.

«Ja, un ob’s stimmt, dass wenns überschwemmt, dass die Strassen dann mit Whiskey überschwemmt wern. Ich hab noch nie kein Whiskey probiert, wirklich nicht, aber aussehn tut er jehnfalls gut.» Ich wandte mich an Luke. «Fintsunich auch, dassas Zeuch gut aussieht, Luke?»

 An dieser Stelle bildete ich mir eine Sekunde lang ein, er hätte durchschaut, dass wir uns über ihn lustig machten, aber er lachte breit und sagte: «Er sieht gut aus, weil er gut schmeckt, Jungs.» Er entfernte sich laut lachend.

«Jetzt wird er sich betrinken, nicht so sehr, weil er’s kann, sondern weil wir es nicht können», sagte ich.

Luke schmunzelte. «Und wenn wir ihn dann später herumtorkeln und sich zum Narren machen sehen, ist das dann ein Beispiel von proleptischer oder dramatischer Ironie?»

«Könnte beides sein.»

«Das wäre dann wirklich ironisch.»

 

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