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Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel (Wagenbach, 2023)

Worum geht’s?

Suzu, die sich in Dating-Apps als «alleinstehend, mit Hamster» beschreibt, lebt sehr einsam und zurückgezogen in einer kleinen Wohnung in Tokio. Sie arbeitet als Kellnerin in einem «Family Restaurant», ist eigentlich ganz zufrieden und vermisst nichts in ihrem Leben.

 

Als der Chef sie für ein Gespräch einlädt und ihr mitteilt, dass er ihr leider kündigen muss, versteht sie zuerst gar nichts. «Das Problem ist Ihr mangelnder Liebreiz. […] Um es auf den Punkt zu bringen, Sie sollten sich einen Job suchen, bei dem Sie so wenig wie möglich mit Menschen zu tun haben.» Das sitzt! Nicht, dass sie den Job so toll gefunden hätte, eigentlich ist sie sogar froh, von den Kellner-Kolleginnen, mit denen sie sowieso nichts gemeinsam hatte, wegzukommen. Doch die Kündigung wirft Suzu ganz schön aus der Bahn. Nachdem sie sich ein paar Wochen in ihrer kleinen Wohnung verkrochen hat, rafft sie sich ihrem Hamster zuliebe auf und bewirbt sich für mehrere Reinigungsjobs.

 

So trifft sie auf Herrn Sakai, Chef einer Firma, die Leichenfundorte reinigt. Wenn alleinstehende Menschen in ihren Wohnungen sterben und dort lange nicht gefunden werden, nennt man das in Japan «Kodokushi». Herr Sakais Firma übernimmt nach dem Abtransport der Leichen die Reinigung der Wohnungen und die Entsorgung des Inhalts.

 

Gleichzeitig mit Suzu bewirbt sich auch Yuto Takada, ein etwa gleichaltriger junger Mann, der – wie sie später herausfindet – in einem «Manga Kissa» lebt, einem Internetcafé mit Übernachtungsmöglichkeit, und noch viel einsamer ist als sie. Beide werden eingestellt und sind so plötzlich Teil einer kleinen Gemeinschaft. Das Team, das aus dem Chef und vier Angestellten besteht, ist Suzu am Anfang viel zu nah. Wieso soll sie nach der Arbeit noch mit den Kollegen in ein Onsen zum Baden gehen? Dass es genau das ist, was sie nach einem langen, von unangenehmen Gerüchen erfüllten Arbeitstag braucht, merkt sie erst, nachdem sie sich auch noch zu einem gemeinsamen Abendessen überreden lassen hat.

 

Suzu verehrt ihren Chef, Herrn Sakai, der ihr beibringt, wie man seinen Ekel überwindet und eine Wohnung reinigt, mit Würde und Respekt gegenüber den Verstorbenen, die niemand vermisst. Wenn das jetzt eher unattraktiv klingt, statt zum Lesen zu verlocken, beschreibe ich gern noch,

 

was mir am Buch besonders gefällt:

Die 1980 in Österreich geborene Autorin Milena Michiko Flašar hat eine japanische Mutter und einen österreichischen Vater und schreibt auf Deutsch. Ich finde es sehr wohltuend, ein Buch zu lesen, das mir fremde Traditionen und Lebensweisen in einem mir mehr oder weniger vertrauten Stil näher bringt.

 

Die Protagonistin hat Mühe mit Nähe zu anderen Menschen, mit Kommunikation, sogar ihr Hamster zieht sich vor ihr zurück! Vielleicht ist sie auf dem autistischen Spektrum, das wird nie thematisiert. Die Autorin beschreibt Suzu mit ihren Eigenheiten sehr liebevoll und integriert sie glaubhaft in die kleine Gemeinschaft ihrer Arbeitskollegen.

 

Ein grosses Thema im Buch ist der würdevolle Umgang mit dem Tod. Die Schilderungen der Wohnungsreinigungen sind stellenweise nichts für schwache Nerven, doch die Autorin schafft es mit trockenem Humor und morbidem Witz, immer respektvoll zu bleiben und kluge Lebensphilosophie und Herzensbildung einzuweben. Es gibt etliche berührende, ganz leise und behutsam geschilderte Szenen aus der Arbeitswelt von Suzu und ihren Kollegen.

 

In der Japanischen Kultur ist es offenbar ein grosses Thema, niemandem zur Last zu fallen. Diese traurige Tatsache wird mit viel Leichtigkeit und Einfühlsamkeit beschrieben. Ein schöner und würdevoller Text über Einsamkeit und Tod in unserer modernen Welt.

 

Originalton aus dem Buch (der auch den Titel erhellt)

«Mein Mann und ich sollten allmählich daran denken, in ein Seniorenheim zu wechseln.»

«Ach was!» Herr Fuji hielt nichts von der Idee. «Bei den Wartelisten werden wir erst einen Platz bekommen, wenn wir da oben sind!» Er deutete in den Himmel.

«Da unten, meinst du wohl.» Frau Fuji deutete auf die Erde.

«Ist doch das Gleiche!», murrte Herr Fuji. «Himmel und Erde treffen einander. Ergo gehören sie zusammen. Sie sind austauschbar.»

 

«Wenn der Himmel unten wäre und die Erde oben, dann würden wir auf Wolken gehen.»

 

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