Worum geht’s?
Die namenlose Ich-Erzählerin ist Ende fünfzig und steht an einem Wendepunkt im Leben. Sie ist geschieden, alleinerziehend, ihre Zwillinge werden langsam erwachsen. Die Tochter zieht aus, der Sohn möchte eigentlich noch nicht, aber die Wohnung, in der die Familie fast zwanzig Jahre lang gelebt hat, ist jetzt definitiv zu gross und vor allem zu teuer.
Doris Knecht erzählt mit präziser Beobachtung von Alltagskleinigkeiten und einem Neubeginn. Vor allem geht es ums Erinnern, Verlieren, Vergessen und Verschenken, ein leises Buch mit ironischer Reflexion über Erinnerung und Selbstlügen.
Die Protagonistin schweift gedanklich von den eigenen Kindern zu ihrer Kindheit. Sie war die älteste von fünf Schwestern, ihre jüngeren Schwestern zwei Zwillingspärchen und sie somit immer das fünfte Rad am Wagen. Sie zieht früh aus, lebt dann als Schriftstellerin mit zwei Kindern und ohne Mann in finanziell immer engen Verhältnissen. Die jetzige Aufbruchstimmung in die neue Freiheit schildert sie mit viel Hoffnung und einer Prise Humor.
Was mir am Buch besonders gefällt
Das Buch verströmt eine sanfte Traurigkeit, ist aber kein Melodrama, sondern ein einfühlsames Frauenporträt über die Kunst des Loslassens. Vielleicht berührt es mich auch deshalb, weil ich mich in einigen Situationen wiedererkenne.
Den Titel finde ich nicht so passend. Ja, die Erzählerin macht Listen über Verlorenes – von der Lesebrille bis zu den Daten auf ihrem Computer – aber das ist nur ein mikroskopisch kleiner Teil des Buches. Meistens geht es um die Gefühlswelt der Erzählerin. Vielleicht zieht sie ein paar Gedankenschlaufen zu viel über ihre Wohnsituation. Zumal ich die Lösung schon länger voraussah.
Da ich ein Fan von Virginia Woolf bin, haben mir die Parallelen zu «A Room of One’s Own» gefallen. Eine Schriftstellerin braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, das die zentrale Aussage von Virginia Woolf. Und das hätte die Ich-Erzählerin gebraucht, um in Ruhe schreiben zu können. Doch das Geld war immer knapp und sie schrieb am Küchentisch, mit Stöpseln in den Ohren, um die spielenden Zwillinge auszublenden.
Ich mag auch die Überlegungen zu gewissen Wörtern, wie zum Beispiel «Solitude», für das es gemäss Erzählerin keine passende deutsche Übersetzung gibt, da «Solitude» etwas Tröstliches an sich hat und «Einsamkeit» eher negativ konnotiert ist.
Alles in allem ein leises Buch mit vielen bemerkenswert formulierten Gedankengängen.
Originalton aus dem Buch
«Vorgestern sah ich ein Foto von mir, aufgenommen von den Veranstaltern einer Lesung. Ich wirke wie eine Playmobil-Figur, die ein Kind versehentlich in eine Gruppe Lego-Männchen gestellt hat, zu gross, zu grob, fehl am Platz. Bis ich das Foto sah, erinnerte ich mich ganz anders an die Frau an jenem Abend: Ich war adrett, geschmeidig und fokussiert.»