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Graham Norton: Heimweh (Rowohlt Kindler, 2021) / Home Stretch (2020)

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus und Katharina Naumann

 

Worum geht’s?

Eine Geschichte um Schuld und Schweigen, Scham und Identität.

Irland, 1987: Connor wächst in Mullinmore auf, einer Kleinstadt im katholischen Irland. Jeder kennt jeden, es wird geklatscht und getratscht. Auf der Rückfahrt von einem Strandausflug mit anderen Jugendlichen passiert ein Autounfall, drei Menschen sterben, eine junge Frau wird schwer verletzt. Connor und Martin dagegen haben kaum eine Schramme. Connor bekennt sich dazu, das Auto gefahren zu haben. Es kommt zum Prozess, er wird zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt und von da an von allen gemieden. Auch seine Familie, die ein Pub führt, spürt den Hass der anderen Familien. Um Conor einen Neustart zu ermöglichen, schicken sie ihn nach England auf eine Baustelle eines Verwandten. Doch dort hält er es nicht lange aus. Er haut ab nach London und wandert später nach Amerika aus. Kontakt zu seiner Familie entsteht erst über zwanzig Jahre später wieder, als Connor in einer Schwulenbar einen über den Durst trinkt und aus Mitleid von einem jungen irischen Barmann mit nach Hause genommen wird. Und plötzlich steht Connor vor der Entscheidung, seine Geheimnisse zu lüften. Der Autounfall war nämlich nicht der einzige Grund gewesen für sein Verschwinden…

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Norton findet eine angenehme Mischung zwischen Unterhaltung und tiefgreifenden Themen. Was bedeutet es, im katholischen Irland der 1980er Jahre schwul zu sein? Er baut gekonnt Spannung auf, weil von Anfang an klar ist, dass es mit dem Autounfall noch mehr auf sich hat. Warum nur war Connor überhaupt mitgefahren, da er ja gar nicht zu dieser Clique gehörte? Das Buch springt zeitlich hin und her und schafft es, die Spannung bis am Schluss zu halten. Das Happy-End ist vielleicht ein bisschen zu schön, aber das sei ihm verziehen.

 

Wem ich das Buch empfehlen würde

Wer gute Unterhaltung sucht, gern über Kleinstadt-Groove im Irland der 1980er Jahre liest und etwas über die Schwulenszene in Manhatten erfahren möchte, wird das Buch mögen.

 

Originalton aus dem Buch

Das Geräusch von nackten Füssen auf dem Holzfussboden. Finbarr stand am Vorhang und hielt ihm einen dampfenden Becher hin.

«Was ist los?» Er klang ehrlich besorgt.

 Nichts.» Nein, er konnte nicht einfach so gehen, ohne zu wissen, was das für ein Foto war. «Es ist nur… Also, dieses Foto. Wer ist die Frau da?» Er zeigte auf sie und bemerkte, dass seine Hand dabei leicht zitterte.

«Das ist meine Mutter. Kennst du meine Mutter?» fragte Finbarr ungläubig.

«Ellen?»

«Ja, genau!»

Connor schluckte und sah Finbarr direkt an.

«Ellen ist meine Schwester.»

Die beiden Männer schwiegen. Sie mussten ihre Beziehung erst einmal neu einschätzen. Finbarr verspürte den Drang, sich ein T-Shirt überzuziehen. Draussen hatte ein Presslufthammer zu lärmen begonnen.

«Du bist der Connor.» Das war keine echte Frage, aber der ältere Mann nickte.

«Granny und Grandad haben oft von dir gesprochen. Sie denken, du wärst in London.»

«War ich auch.» Connor gefiel das hier gar nicht. Er fühlte sich exponiert. Der Junge kannte all seine Geheimnisse.

«Das ist ja toll. Ich meine, was für ein Zufall! Mammy wird durchdrehen, wenn ich ihr das erzähle.» Er hielt ihm erneut den Becher hin. «Einen Barry’s zur Feier des Tages»

Connor nahm den Becher mit einem schwachen Lächeln. Sollte er Finbarr bitten, seinen Verwandten nichts davon zu erzählen? Ihn anflehen, sein Geheimnis zu bewahren, oder war jetzt der Moment gekommen, dem Versteckspiel ein Ende zu setzen? Er sah den jungen Mann an, der ihm gegenüberstand und nichts als ein kleines, himmelblaues Höschen trug. Er hatte in Mullinmore gelebt.

«Weiss deine Mutter, dass du …» Er verstummte und deutete vage in Richtung Finbarr.

«Dass ich fabelhaft bin? Natürlich weiss sie das.» Er lachte und fuhr dann ernsthafter fort: «Ja, das war in Ordnung für sie. Dad hat sich ein bisschen komisch verhalten, aber er hat es jetzt auch geschluckt.»

Connor war über sich selbst erschrocken. Er hatte tatsächlich noch gar nicht an einen Vater dacht.

«O mein Gott. Dein Vater. Wen hat Ellen denn geheiratet?» Es kam ihm merkwürdig vor, dass das Leben seiner kleinen Schwester in seiner Abwesenheit weitergegangen war, dass sie jetzt ein Frau in den Vierzigern mit einem erwachsenen Sohn war.

 

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