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Leïla Slimani: Das Land der Anderen (2021) / Le Pays des Autres (2020)

Aus dem Französischen von Amelie Thoma

 

Worum geht’s?

 1944 treffen die Elsässerin Mathilde und der Marokkaner Amine aufeinander, als die französische Armee, in der es Amine zum Offizier gebracht hat, das Elsass befreit. Sie heiraten, und Mathilde geht mit Amine nach Marokko, wo sie zwei Kinder bekommen und auf dem Land von Amines Vater im Norden Marokkos eine kleine Farm bewirtschaften.

 

Ab 1953 regt sich in Marokko, wie auch im benachbarten Algerien, die Unabhängigkeitsbewegung, und das Paar sitzt plötzlich zwischen Stuhl und Bank respektive zwischen den Kulturen. Immer häufiger kommt es zu Attentaten, es gibt Gewalt von beiden Seiten. Auch die Familie von Amine ist betroffen. Omar, der immer im Schatten seines älteren Bruders Amine stand, entflammt für den Nationalismus. Amines jüngere Schwester Selma nutzt die Abwesenheit ihrer älteren Brüder, um sich in Bars und Cafés zu vergnügen und mit einem Franzosen zu flirten, was Amine buchstäblich ausrasten lässt.

 

Die Autorin verknüpft die Historie mit der Entwicklung dieses "gemischten" Paares und erzählt feinfühlig von ihren alltäglichen Erfahrungen und kulturellen Differenzen, bei denen auch Gewalt nicht ausgeklammert wird.

 

Ein wiederkehrendes Bild im Roman ist der „Zitrangenbaum“. Um die gemeinsame Tochter zu unterhalten, pfropft Amine einen Zitronenzweig auf einen Orangenbaum: „Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite.“ Dass die Früchte des Baumes bitter und ungeniessbar sind, gehört zur Ironie des Romans.

 

Zur Debatte im Roman stehen aber auch die Unterdrückung der Frau, das Schicksal der Einheimischen in einem kolonialisierten Land und das einer europäischen Auswanderin, die sich nicht unter die Kolonisatoren mischt.

 

Wer mag, kann sich die Sendung Sternstunde Philosophie vom 28. November 2021 anschauen. Slimani erzählt dort, warum sie dieses Buch unbedingt schreiben wollte. Es soll das erstes Buch einer Trilogie sein, nach der Geschichte ihrer Grosseltern hat sie im bereits beendeten zweiten Band die Geschichte ihrer Mutter beschrieben. Im dritten Band wird es dann um sie selber gehen. Vom Moderator gefragt, warum sie diese Bücher schreiben wolle, antwortete sie, schon Camus habe gesagt, er schreibe von den Menschen, die er geliebt habe. Und so gehe es ihr auch, sie wolle von den Menschen schreiben, die sie geliebt hat und die verschwunden sind: ihre Grosseltern und die Menschen um sie herum. Sie wolle eine verschwundene Welt wieder auferstehen lassen und den Menschen in Europa ihren Hintergrund näher bringen, was ihr meiner Meinung nach sehr gelungen ist.

 

Was mir am Buch besonders gefällt

Das Land der Anderen kommt mit wenig Handlung aus und ist trotzdem spannend zu lesen. Die Erzählstimme folgt den verschiedenen Figuren und blickt aus deren Perspektive auf die Welt, sie wahrt stets die Distanz. Die Figuren werden nicht bewertet, verurteilt oder bemitleidet. Dazu sagt Slimani in der erwähnten Sternstunde Philosophie vom 28.11.2021, Schriftsteller seien nicht da, um zu urteilen. Ihre Aufgabe sei es zu versuchen zu verstehen, zurückzutreten und zu beschreiben. Das macht sie meisterhaft!

 

Interessant finde ich auch, wie Slimani ganz nebenbei die patriarchalische Gesellschaft beschreibt. Der Marokkaner Amine, der eine Französin geheiratet hat, gerät bei der Erkenntnis, dass seine Schwester mit einem Franzosen ausgeht, so in Rage, dass er gegen Schwester und Ehefrau gewalttätig wird. In dieser Gesellschaft gelten für Frauen und für Männer nicht dieselben Regeln.

 

Wem ich das Buch empfehlen würde

Freund:innen von Familiengeschichten, von Migrationsgeschichten, von Geschichten aus fernen Ländern und früheren Zeiten.

 

Originalton aus dem Buch

Er näherte sein Gesicht dem seiner Tochter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Während er leise auf den Flur trat und die Tür schloss, dachte er, dass die Früchte des Zitrangenbaums ungeniessbar waren. Ihr Fleisch war trocken, und ihr bitterer Geschmack trieb einem die Tränen in die Augen. Er überlegte, dass in der Welt der Menschen dasselbe galt wie in der Botanik. Am Ende würde eine Art dominieren, die Orange würde eines Tages die Zitrone verdrängen oder umgekehrt, und der Baum würde wieder essbare Früchte tragen.

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